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An dieser Stelle werden Artikel zu Themen der Medienbildung veröffentlicht. Hier finden Sie neben grundlegenden Informationen auch Interviews von Expertinnen und Experten sowie Materialien und Linktipps.

Grafik: Kopf einer Person, die statt eines Gesichts ein Smartphone hat. Diesen zeigt einen diabolisch blickenden Smiley.

Klare Position beziehen geht nicht, wir sind neutral! Ist das wirklich so? In gesellschaftlichen und politischen Debatten ist eine zunehmende Verhärtung der Fronten zu beobachten. Diskussionen werden rauer und unsachlicher geführt. Politisch motivierte Gewalttaten haben deutlich zugenommen, wobei rechtsextreme Straftaten den höchsten Zuwachs verzeichnen (Bundesamt für Verfassungsschutz, 2024). Auch das Lehrpersonal an Schulen sieht sich mit steigenden verbalen oder gar körperlichen Angriffen konfrontiert (Forsa, 2022). Wie sollen sich Bildnerinnen und Bildner gegenüber diesen Tätlichkeiten und extremistischen Aussagen verhalten? In welcher Form sind sie der Neutralität verpflichtet, und ab wann ist es notwendig, Haltung zu zeigen, um unsere Demokratie zu stützen?

In diesem Beitrag möchten wir diesen Fragen auf den Grund gehen. Dazu haben wir Fabian Soding von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) als Experten hinzugezogen.

KSM: In der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit ist das Neutralitätsgebot maßgeblich für Bildungsakteurinnen und -akteure. Viele sind jedoch verunsichert: Ab welchem Zeitpunkt, gilt es, sich klar zu positionieren?

Fabian Soding: Politische Zurückhaltung in der politischen Bildungsarbeit ist zunächst einmal ein wichtiges Prinzip. Es soll sicherstellen, dass politische Inhalte ausgewogen und fair vermittelt werden und z.B. unterschiedliche gesellschaftliche, religiöse, ethische und politische Anschauungen gleichermaßen respektiert werden. Das viel zitierte Gebot der politischen Neutralität in der (politischen) Bildungsarbeit gibt es jedoch nicht in absoluter Form. Die Praxis der rechtlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen ist komplex. Der Beutelsbacher Konsens (bpb, 2011) definiert seit vielen Jahren das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und die Schülerorientierung als Leitprinzipien politischer Bildung. Das heißt aber nicht, dass unsere Arbeit nicht wertgebunden ist. Die Auseinandersetzung mit politischen Positionen ist nicht nur zulässig, sondern entspricht unserem Bildungsauftrag. Wie Lehrkräfte im Schuldienst sind wir als Institution verpflichtet, uns an der Werteordnung des Grundgesetzes zu orientieren und die Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vermitteln (Vgl. Verwaltungsvorschrift). Bei aller Neutralität in der Vermittlung von Wissen und kontroversen Themen setzen uns Grundgesetz und die freiheitlich demokratische Grundordnung klare ethische und rechtliche Grenzen, die eine Positionierung erfordern.

KSM: Können Sie konkrete Beispiele nennen, in denen politische Äußerungen eine demokratische Grenze überschreiten?

Fabian Soding:  Allen Äußerungen oder Handlungen, die den Holocaust relativieren oder leugnen, die Grundrechte oder die Menschenwürde verletzen und zu Gewalt oder Terrorismus aufrufen, muss so deutlich wie möglich widersprochen werden. Auch alle Formen von Diskriminierung und Rassismus oder die Infragestellung demokratischer Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Pluralismus überschreiten die Grenze. Diese Prinzipien sind für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unerlässlich und ihre Verteidigung daher Teil unseres Bildungsauftrags – offline wie online.

KSM: Auf welche rechtlichen Grundlagen können sich Bildnerinnen und Bildner stützen, um gegen extreme, rassistische und menschenverachtende Positionen Widerspruch einzulegen?

Fabian Soding: Eine Reihe nationaler Gesetze und internationale Vereinbarungen sind eindeutig in der juristischen Grenzziehung solcher Positionen. Einige Beispiele sind: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Artikel 1 – Menschenwürde, Artikel 3 – Gleichheit vor dem Gesetz, Artikel 5 – Meinungsfreiheit und ihre Grenzen), das Strafgesetzbuch (§ 130 – Volksverhetzung, § 185 – Beleidigung und § 186 – Üble Nachrede), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 10 – Freiheit der Meinungsäußerung, Artikel 14 – Diskriminierungsverbot), die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 21 – Nichtdiskriminierung, Artikel 1 – Menschenwürde).

KSM: Wie lässt sich die Forderung nach »Extrem-Neutralität« rechts- oder linksextremer Parteien in der politischen Bildung kritisch reflektieren?

Fabian Soding:  Die Forderung nach absoluter Neutralität kann problematisch werden, wenn sie genutzt wird, um extremistische Positionen salonfähig zu machen oder sie auf eine gleiche Stufe mit demokratischen Grundwerten zu stellen. Neutralität darf nicht bedeuten, dass antidemokratische oder menschenverachtende Positionen als gleichwertig zu demokratischen und menschenrechtsbasierten Ansichten präsentiert werden.

Hier greift das Toleranz-Paradoxon von Karl Popper:

»Unbegrenzte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir grenzenlose Toleranz auch gegenüber Intoleranten ausweiten, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten zerstört, und die Toleranz mit ihnen (Karl R. Popper, 2024: S. 226).«

KSM: Wie kann man in der Vermittlungsarbeit oder Beratung damit umgehen, dass derzeit extreme, menschenrechtsverletzende Äußerungen überwiegend von rechts kommen? Welche Möglichkeiten gibt es, dennoch einen ausgewogenen und kritischen Diskurs zu fördern und extremistische Positionen zu dekonstruieren?

Fabian Soding:  Extremistische Argumentationen bedienen sich oft einer ganz bestimmten Rhetorik. So werden gezielt Feindbilder aufgebaut, mit Übertreibungen und Generalisierungen gearbeitet und vor apokalyptische Szenarien gewarnt. Auch logische Fehlschlüsse wie Ad-hominem-Argumente (d.h. die Person und nicht das Argument anzugreifen), die gezielte Verwechselung von Korrelation und Kausalität oder das Verzerren von Positionen des politischen Gegners (Strohmann-Argumente) sind üblich. Es ist wichtig, diese rhetorischen Tricks als solche zu entlarven und zu widerlegen. Dazu können Debatten, z.B. in Rollenspielen, simuliert werden. Auch kann man aktiv Fallstudien betreiben, um rhetorische Mittel und logische Fehler zu identifizieren und den eigenen Umgang damit zu trainieren. Und natürlich kommt der Medienbildung eine entscheide Rolle zu, indem sie die Fähigkeit fördert, Medieninhalte kritisch zu hinterfragen, Falschinformationen und Propaganda zu erkennen.

KSM: Vielen Dank an Fabian Soding für die wertvollen Hinweise und Informationen.

Wie die Ausführungen zeigen, ist der Beutelsbacher Konsens zwar handlungsleitendes Prinzip für Bildungsakteurinnen und -akteure, dennoch bedeutet dies keineswegs, sich jeder Äußerung gegenüber neutral zu zeigen. Im Gegenteil, es ist Teil des Bildungsauftrags, Aussagen zu widersprechen, die sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten.

Hand, die ein Smartphone hält, das einen diabolisch blickenden Smiley zeigt. Überschrift: Extremismus und Social Media

Welche Rolle spielen Social Media Plattformen bei dieser Entwicklung?

Katalysator für die abnehmende Diskussionsbereitschaft ist nicht zuletzt eine veränderte Kommunikationskultur durch den digitalen Wandel. Kontroversen verlagern sich in den digitalen Raum und werden zunehmend in Social Media ausgetragen. Dieser Umstand spielt eine entscheidende Rolle bei der Verstärkung populistischer Tendenzen und der Verhärtung des politischen Diskurses: Aggressive und aufwühlende Beiträge erhalten im Durchschnitt mehr Likes und Kommentare, was vom Algorithmus als positives Signal gewertet und weiter verstärkt wird (Saurwein, Florian et al., 2022). Dies führt dazu, dass populistische Akteurinnen und Akteure in den sozialen Medien besonders erfolgreich sind und hohe Reichweiten erzielen.

Gleichzeitig führt die Angst vor Hass und Anfeindungen dazu, dass sich viele Nutzerinnen und Nutzer aus politischen Diskussionen im Netz zurückziehen. Die Studie »Lauter Hass - Leiser Rückzug« zeigt, dass sich mehr als die Hälfte der Befragten im Netz seltener oder zurückhaltender zu politischen Überzeugungen äußert. Dies kann zu einer Verzerrung der sichtbaren Meinungslandschaft führen.1 Filterblasen und Echokammern verfestigen zudem bestehende Überzeugungen und tragen zu einer weiteren Polarisierung bei, da hier vor allem Informationen und Meinungen konsumiert werden, die die eigenen Ansichten bestätigen (Deutscher Bundestag, 2022). Geschickt gemachte Kampagnen beeinflussen die öffentliche Meinung und Menschen werden gezielt manipuliert. Dabei bedienen sich populistische Parteien häufig der Ängste der Bevölkerung, um ihre politischen Positionen zu propagieren. Radikale Strömungen im linken Spektrum instrumentalisieren beispielsweise den Klima- und Umweltschutz, um ihre Ideologien voranzutreiben. Andere extremistische Gruppierungen ziehen ein Kalifat demokratischen Werten vor (Norddeutscher Rundfunk 2024). Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Strategien und Mechanismen zu entlarven. Dies ist ein wichtiger Bestandteil des Bildungsauftrags, um einen ausgewogenen Ansatz zu finden, der Neutralität wahrt und gleichzeitig vor extremistischen Inhalten schützt.

1 Hinweis: Hilfestellungen dazu, wie Sie Hass im Netz begegnen können, finden Sie in unserem Artikel »Gegenrede – Wie man Hass im Netz begegnet«.

Weiterführende Materialien und Links

Hier finden Sie hilfreiche Angebote und Tipps für die pädagogische Praxisarbeit:

Hellgrüner Hintergrund mit einem menschlichen Kopf darauf. Am oberen Rand des Kopfes befinden sich die Icons von Facebook, Snapchat, Instagram, WhatsApp und Twitter. Aus dem Kopf kommn oben Blüten heraus.

Instagram, Facebook, TikTok, YouTube, Snapchat, WhatsApp, Twitter und Co. – Wir alle kennen sie, viele von uns nutzen sie. Diese sogenannten sozialen Medien (engl. Social Media) gibt es bereits seit den 2000er Jahren, wenngleich sie erst einige Zeit nach der Jahrtausendwende einen großen Beliebtheitssprung gemacht haben. Als Social Media lässt sich die Gesamtheit der digitalen Technologien und Medien wie Wikis, soziale Netzwerke u. ä. definieren, über die Nutzer und Nutzerinnen miteinander kommunizieren und Inhalte austauschen können (Oxford Languages, 2020).

Vorteile von sozialen Medien

Das Surfen, Austauschen, Liken, Folgen, Posten und Kommentieren in sozialen Medien ist heutzutage kaum noch wegzudenken. Die steigende Nutzung und Beliebtheit dieser Dienste liegt dabei nicht zuletzt an den vielfältigen Vorteilen, welche die Entwicklung dieser Kommunikationsplattformen mit sich bringt. Soziale Medien bieten ihren Nutzern und Nutzerinnen einen Ort für Hilfe und Engagement. Noch nie war es so einfach, sich selbst zu verwirklichen bzw. anderen zu helfen. Wer soziale Netzwerke nutzt, kann seine technischen und kommunikativen Fähigkeiten erweitern sowie verschiedene Weltbilder und Perspektiven kennenlernen. Dank Social Media hat man einen schnellen Zugang zu Wissen und Nachrichten, kann sich für Themen einsetzen oder Unterstützung in Form von Hilfeforen generieren. Daneben dient die Nutzung dieser Dienste vor allem der Stärkung von sozialen Beziehungen. Social Media hebt die Grenzen auf, Menschen zu treffen, Kontakte zu pflegen und über Distanzen hinweg Bindungen zu knüpfen. Ferner können durch soziale Internetdienste Inspirationen gesammelt, Firmen aufgebaut oder Trends gesetzt werden.

Das erwartet Sie in diesem Artikel

Dennoch haben auch Instagram, Facebook, Twitter und all die anderen Anbieter ihre Schattenseiten. Im Folgenden sollen deshalb einige Schwierigkeiten und Probleme angesprochen werden, welche die Nutzung von Social Media nach sich ziehen kann. Zunächst werden hierfür Zahlen und Statistiken aufgezeigt, welche die Grundlage bilden. Anschließend folgt ein Einblick in die Risiken der sozialen Netzwerke, welche in einem Interview mit Nicole Trenkmann von der Suchtberatungsstelle GESOP Dresden beleuchtet wurden. Neben der Thematisierung des Einflusses sozialer Medien auf die mentale Gesundheit wird im dritten Abschnitt ein Blick auf das zunächst positiv erscheinende Phänomen des sogenannten Mental-Health-Content auf Social Media geworfen. Zum Abschluss des Artikels finden Sie einige Tipps und Strategien für einen bewussten Umgang mit diesen Plattformen.

Zahlen, Daten, Fakten

Um über die Auswirkungen von Social Media sprechen zu können, seien sie nun positiv oder negativ, gilt es zunächst einen Blick auf aktuelle Statistiken bezüglich der Nutzung dieser Dienste zu werfen. Daten zu Nutzungsdauer, -häufigkeit und den beliebtesten Plattformen bilden dabei die Grundlage für eine tiefere Auseinandersetzung mit dem hier aufgegriffenen Thema.

In der ARD-ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2022 wurden die Social-Media-Nutzer nach Generationen aufgeteilt analysiert. Dabei zeigte sich, dass immerhin fast die Hälfte der zwischen 1945 und 1964 geborenen Bürgerinnen und Bürger soziale Medien nutzen. In der nachfolgenden Gen X (Jahrgänge 1965-1979) sind es bereits ¾ aller Menschen in Deutschland. Wer zwischen 1980 und 1996 geboren ist, gehört der Generation der Millennials an. Unter den Menschen dieser Jahrgänge erfreuen sich Social-Media-Anbieter bereits bei über 80% einer großen Beliebtheit. Die Generation mit dem höchsten prozentualen Anteil an Nutzerinnen und Nutzer verzeichnet jedoch mit mehr als 90% die Gen Z (Jahrgänge 1997-2009). Auf die zuletzt genannte Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird in der folgenden Statistik noch einmal ein genauerer Blick hinsichtlich der Nutzungsdauer geworfen.

Säulendiagramm mit x-Achse Nutzungsdauer in Stunden und y-Achse Jahr. Linke Säule 2019 mit Dauer von 56 Tagen; mittlere Säule 2020 mit Dauer von 65 Tagen; linke Säule 2021 mit Dauer von 62 Tagen
Nutzungsdauer von sozialen Medien der Gen Z  © JIM-Studie 2022, eigene Abbildung

Diese zunächst sehr hoch anmutenden Zahlen der aktuellsten JIM-Studie aus dem Jahr 2022 bieten immer mehr Nachrichtendiensten Anlass für aufrührende Schlagzeilen hinsichtlich des Mediennutzungsverhaltens junger Menschen. In diesem Zusammenhang fallen oft Wörter wie »Sucht« und »Abhängigkeit«. Dabei muss jedoch darauf geachtet werden, dass ein hoher Konsum noch keine Abhängigkeit ausmacht. Nicole Trenkmann, Suchtberaterin bei der GESOP Dresden, zieht hier eine klare Grenze: Es gibt zwei Kriterien, die einen Medienmissbrauch von einer -abhängigkeit unterscheiden, die Faktoren Zeit und Leid. Die die Lebensqualität beeinträchtigenden Symptome (s.u.) müssen mindestens über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten vorliegen und mit einem Leidensdruck für die betroffene Person einhergehen damit es als Abhängigkeit diagnostiziert werden kann.

Säulendiagramm mit x-Achse Prozentangaben und y-Achse soziale Medien Instagram, Facebook, TikTok, Snapchat, Twitter. 4 Säulen je soziales Netzwerk nach Altersgruppen aufgeteilt (14-29 Jahre/ 30-49 Jahre/ 50-69 Jahre/ ab 70 Jahre).
Anteil der Nutzer und Nutzerinnen von Social-Media-Plattformen nach Altersgruppen in DE 2022   © JIM-Studie 2022, eigene Abbildung

Auch mit Blick auf die beliebtesten Social-Media-Plattformen lassen sich insbesondere altersspezifische Unterschiede feststellen. Diese Statistik in Verbindung mit den vorangegangenen Zahlen zur Nutzungshäufigkeit zeigt deutlich, dass ältere Generationen durchaus am digital-sozialen Geschehen teilnehmen. Nichtsdestotrotz bilden die Angehörigen der Gen Z die am stärksten vertretene Kohorte in den sozialen Medien. Deshalb ist es nicht sehr verwunderlich, dass laut Suchtexpertin Nicole Trenkmann eben diese Zielgruppe auch die höchste Vulnerabilität (Anfälligkeit) für eventuelle negative Auswirkungen der Social-Media-Nutzung aufweisen.

 

Bei Risiken und Nebenwirkungen - Welchen Einfluss haben Soziale Medien auf die mentale Gesundheit?

Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, verringerte Frustrationstoleranz, sozialer Rückzug – diese und noch viele weitere Phänomene können auftreten, wenn die Nutzung von Medien überhandnimmt. Doch was genau sind Ursachen und Auswirkungen exzessiver Mediennutzung? Ist es überhaupt richtig, dass die Nutzung sozialer Medien einen negativen Einfluss auf unsere Psyche hat? Diesen Fragen haben wir uns in einem Interview mit Nicole Trenkmann, Suchtberaterin bei der GESOP Dresden, zugewandt.

KSM: Frau Trenkmann, Sie arbeiten als Suchtberaterin bei der GESOP in Dresden. Wie sind Sie dahin gekommen, wo Sie jetzt sind? Was sind Ihre Aufgaben als Suchtberaterin?

Nicole Trenkmann: Ich habe Kultur- und Medienpädagogik studiert und dann jahrelang im Bereich der Medienpädagogik und -bildung für die Thüringer Landesmedienanstalt und anschließend im Medienkulturzentrum in Dresden gearbeitet. Während dieser Zeit verspürte ich jedoch ein steigendes Interesse an der Beschäftigung mit der Psychologie. Ich entdeckte mehr und mehr meine Leidenschaft für die Beratung und Begleitung von Menschen und habe dann die Heilpraktikerin für Psychotherapie sowie die Fachkraft für Sozialpsychiatrie absolviert. Anfangs habe ich bei der GESOP ehrenamtlich in einer Online-Suchtgruppe gearbeitet und weitere Zusatzqualifikationen gemacht. Seit 2016 arbeite ich jetzt in der GESOP-Suchtberatung. Dabei berate und behandle ich die Zielgruppe Erwachsene in Einzel- oder Gruppentherapie, halte Infoseminare zum Thema exzessive Mediensucht und führe schulische Präventionsprojekte zum Thema seelische Gesundheit und Erkrankung sowie über exzessive Mediennutzung durch.

KSM: In diesen Artikel geht es um das Thema »Mentale Gesundheit und soziale Medien«. Da soziale Medien in Bezug auf die psychische Gesundheit oft »verteufelt« werden, stellt sich zunächst die Frage, inwiefern dieser Zusammenhang berechtigt ist. Haben soziale Medien einen negativen Einfluss auf die Psyche? Und wenn ja, welche Ursachen liegen dem zugrunde?

Nicole Trenkmann: Prinzipiell lässt sich oft ein gewisser Leidensdruck der Menschen erkennen, wenn man zu viel in sozialen Netzwerken unterwegs ist oder Medien allgemein konsumiert. Zunächst muss man erstmal unterscheiden, was im Internet alles exzessiv genutzt werden kann. Dazu zählen die sozialen Medien wie TikTok, Instagram, Facebook usw. Daneben gibt es die sogenannten »Serien-Junkies«, die vor allem Plattformen wie TikTok, Netflix und insbesondere Youtube stark konsumieren. Dann gibt es den Bereich des Gamings, Pornografie, Glücksspiel und die Data-Holics (»Informationsjunkies«), die im Speziellen meist Dienste wie Twitter in Anspruch nehmen. Davon wurde bis jetzt von der WHO nur die Gaming-Disorder als psychische Störung anerkannt. Nichtsdestotrotz können aus meiner Sicht auch in den anderen Bereichen Problematiken sowie Abhängigkeiten entstehen, welche noch nicht in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (sog. ICD-10) aufgenommen sind.

Die sozialen Medien arbeiten mit verschiedenen Phänomenen wie der „Fear of missing out“ (auf Deutsch: Die Angst etwas zu verpassen), dem Fehlen eines natürlichen Endes an Informationen und dem Binden der Aufmerksamkeit an die Inhalte durch spezifische Algorithmen. Dadurch werden Nutzerinnen und Nutzer dazu verleitet, Stunde um Stunde in den sozialen Netzwerken zu verbringen.

Nicole Trenkmann: Diese Problematiken sind vor allem der Rückzug aus dem realen Leben, welcher zu einer emotionalen Vernachlässigung führen kann. Die eigenen Gefühle können nicht mehr richtig wahrgenommen und ausgedrückt werden. Im schlimmsten Fall kann die übermäßige Nutzung sozialer Medien zu anderen psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, sozial phobischem Verhalten, Depression, Verstärkung einer ADHS – Problematik, Störungen der Impulskontrolle oder Störungen der Emotionsregulation führen. Bei diesen sogenannten Komorbiditäten (das gleichzeitige Vorkommen von zwei oder mehr Erkrankungen) kann die Medienabhängigkeit sowohl Ursache als auch Folge sein.

Dabei muss betont werden, dass nicht die sozialen Medien per se als „schlecht“ für den Menschen klassifiziert werden dürfen. Vielmehr besteht ein Zusammenhang zwischen bereits vorhandenen psychischen oder lebensgeschichtlichen Schwierigkeiten und der daraus resultierenden exzessiven Nutzung dieser Dienste. Dadurch können sich bereits angebahnte Symptomatiken verstärken und so einen »Beschleuniger« der psychischen Belastungen darstellen.

Nicole Trenkmann: Wie und warum es zu solch einer übermäßigen Nutzung kommen kann, liegt zumeist einerseits in den Lebensereignissen und andererseits im Persönlichkeitsstil der jeweiligen Person begründet. Schwierige Lebenssituationen wie bspw. Trennungen, der Tod eines Angehörigen oder der Verlust der Arbeitsstelle stellen erhebliche Einschnitte in das Leben eines Menschen dar. In Verbindung mit einem eher selbstunsicheren, introvertierten Persönlichkeitsstil kann dies die Nutzung von Medien als Ablenkung und Flucht aus der realen Welt begünstigen. Fehlende Bewältigungsstrategien bieten Raum für Social Media als Tool zur vermeidlichen Entspannung. Aufgrund der Reizüberflutung und vielen Informationen, die das Gehirn beim Scrollen durch TikTok, Instagram und Co. verarbeiten muss, ist dies jedoch alles andere als Entspannung für Körper und Geist. Auch Langeweile, Einsamkeit, ein geringes Selbstwertgefühl oder die Suche und der Wunsch nach Autonomie und Sinn im Leben können Ursachen für einen erhöhten Konsum sein.

KSM: Wenn dieser Negativzusammenhang zutrifft, welche Auswirkungen bzw. Symptome können aufgrund der (übermäßigen) Nutzung von Social Media auftreten?

Nicole Trenkmann: Wenn die Mediennutzung zum Lebensmittelpunkt wird, sich die Gedanken nur noch um das nächste Video, die neuen Followerinnen und Follower und die Storys der Lieblingsinfluencerin oder des Lieblingsinfluencers drehen, kann dies erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen. Ich beobachte in meiner Arbeit neben dem Auftreten körperlicher Symptome wie Rücken- und Kopfschmerzen oder sogar Entzugserscheinungen vor allem Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, eine verminderte Aufmerksamkeitsspanne sowie geringe Frustrationstoleranz und Schlafprobleme.

KSM: Es gibt immer mehr Schlagzeilen und Studien, welche vor der immer mehr ansteigenden Nutzungsdauer und –häufigkeit der sozialen Medien insbesondere bei Jugendlichen warnen. Dahingehend stellt sich die Frage, ab wann in diesem Zusammenhang von einer wirklichen Sucht gesprochen werden kann?

Nicole Trenkmann: Insgesamt kann ich aus meiner Erfahrung raus sagen, dass insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene bis ca. 30 Jahre von Medienmissbrauch oder -abhängigkeit am ehesten betroffen sind. Für die Diagnostik ist dabei nicht allein die reine Zeitkomponente wesentlich. Vielmehr geht es um die sogenannte Toleranzentwicklung in der Nutzung der Medien. Das bedeutet, wenn die betroffene Person früher durchschnittlich 3 Stunden pro Tag in den sozialen Medien verbrachte und es heute bereits ca. 9 Stunden sind, gibt dies einen Hinweis auf exzessives Verhalten.

Entspannung, soziale Kontakte, Anerkennung und Aktion – All das spielen uns die sozialen Medien vor. Wenn Anerkennung jedoch an Likes und Follower gebunden ist, soziale Kontakte vor allem den sozialen Vergleich anstoßen und die Angst, etwas von den vielen Aktionen zu verpassen den Schlaf beeinträchtigt, dann zeigen sich die Fallen der sozialen Medien (AOK, 2021). Eine der größten Fallen ist dabei die Nutzung von Filtern und Bildbearbeitungsprogrammen auf Social Media. Das Präsentieren von perfekten Körpern und Alltagsroutinen kann insbesondere bei Jugendlichen zu erheblichen Irritationen bei dem Verständnis des eigenen Körpers führen (Müller, 2022).

Tipps und Strategien

Die vielfältigen Thesen bezüglich sozialer Medien sollen nicht dazu aufrufen, die Nutzung dieser Plattformen gänzlich zu vermeiden oder zu verteufeln. Vielmehr geht es um eine bewusste und reflektierte Nutzung sozialer Medien. Um dies zu erreichen braucht es keine spezielle Ausbildung oder teure Tools. Im Folgenden sollen ein paar Tipps und (Entspannungs)-Strategien aufgezeigt werden, welche der psychischen Gesundheit im digitalen Zeitalter zuträglich sind.

Allgemeine Tipps für einen gesunden Umgang mit Social Media

  • In den sozialen Medien ist nicht immer alles so, wie es scheint. Es kann helfen, sich den Unterschied zwischen der perfekt erscheinenden Online-Glitzerwelt und dem echten Leben immer wieder bewusst zu machen.
  • Zeitlimits werden gern empfohlen. Das Setzen und Einhalten solcher Limits kann mithilfe eines Timers oder entsprechender Apps wie Forest, Space oder App-Detox umgesetzt werden.
  • Es gibt immer mal schlechte Tage. An diesen kann es hilfreich sein, das Surfen durch Social Media zu verringern. Durch den Doomscrolling-Effekt kann sich die schlechte Laune verfestigen oder sogar verschlimmern.
  • Da die Nutzung sozialer Medien und vor allem das blaue Licht des Smartphones den Schlaf beeinflussen kann, ist es empfehlenswert, das Gerät über Nacht lautlos oder ausgeschaltet in einem anderen Raum als dem Schlafzimmer liegen zu lassen. Desweiteren kann das blaue Licht die Ausschüttung des Schlafhormos Melatonin verhindern. Aus diesem Grund sollte das Smartphones bereits einige Zeit vor dem Schlafengehen nicht mehr genutzt oder ein Blaulichtfilter verwendet werden.
  • Der durch die Reizüberflutung entstehende Stress kann durch diverse Entspannungsverfahren reduziert werden, wie z.B. Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training nach Jacobson, bestimmte Atemtechniken wie die 4-7-8-Atmung oder die Wechselatmung, Yoga oder Meditation.
  • Um das eigene Nutzungsverhalten zu überprüfen, bieten einige Websites Selbsttests an, z.B. https://www.ins-netz-gehen.de/test-handysucht-computersucht/  

Eine Übersicht über Präventions- und Aufklärungsangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern finden Sie auf unserer Website. Hier sind unter den Zielgruppenangeboten verschiedene Anbieter mit Workshops, Fachvorträgen und anderen Angeboten aufgelistet.

Mental-Health-Content in den sozialen Netzwerken

In den letzten Jahren wurden psychische Belastungen oder Erkrankungen mehr und mehr in sozialen Medien thematisiert. Influencer, Influencerinnen und andere Personen des öffentlichen Lebens sprechen offen über ihre Depressionen, Zwangs- oder Essstörungen sowie ADHS-Diagnosen. Zunächst lässt sich vermuten, dass die Thematisierung dieser Inhalte auf öffentlichen Plattformen der Entstigmatisierung und dem offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft helfen können. Es ist nicht abzuweisen, dass das Sprechen über die eigene Krankheit vieler berühmter Personen die so wichtige Debatte über psychische Erkrankungen antreibt und anderen den Mut schenkt, offen mit ihrer Krankheit umgehen zu können. Nichtsdestotrotz bleibt es umstritten, ob derartige Inhalte auf Social Media präsentiert werden sollten. Es ergeben sich folgende vier Problemfelder, wenn Mental-Health-Content auf sozialen Netzwerken geteilt wird.

  1. Verharmlosung psychischer Erkrankungen

Manche der in den sozialen Netzwerken verbreiteten Videos oder Beiträge fokussieren nur ausgewählte Seiten einer psychischen Erkrankung. Sie reduzieren sie auf ein Symptom und simplifizieren sie damit. Betroffene können sich durch diese »Verniedlichung« nicht ernstgenommen fühlen – Nicht-Betroffene können ihre vorhandenen Spleene überbewerten und für eine psychische Erkrankung halten.

  1.  Scheintherapie

Wer keinen Therapieplatz bekommt, findet in den sozialen Medien oft Leidensgenossen und Therapie-ähnliche Accounts, die den Anschein einer professionellen Hilfe erwecken. Internetcontent schafft Nähe und Vertrauen. Diese angebliche Nähe ist jedoch nur scheinbar vorhanden. Eine wirkliche individuelle Beratung kann nur eine Therapie bei anerkanntem psychotherapeutischen Personal bieten.

  1. Trigger

Ein Trigger ist ein Sinneseindruck, der ein erlebtes Trauma zurückholt. Auch Internetcontent kann triggern. Dabei ist die Thematisierung nicht per se schädlich. Es zeigt sich, dass das Reden über oder Zeigen einer Krise in den sozialen Medien auch den positiven »Papageno-Effekt« nach sich ziehen kann. Auf der anderen Seite, kann insbesondere die Darstellung von Krisen, die mit selbstverletzendem oder suizidalem Verhalten einhergehen den sogenannten »Werther-Effekt« auslösen. Dieser beschreibt den Nachahmungseffekt von in den öffentlichen Medien (u.a. auch sozialen Netzwerken) ausführlich berichteten Suiziden, wie dies bspw. beim Suizid des Torwarts Robert Enke 2010 der Fall war (Cadenbach, 2010).

  1. Algorithmus

Die hinter den sozialen Netzwerken stehende Funktionsweise ist darauf ausgerichtet, den Nutzern und Nutzerinnen den Content anzuzeigen, auf dem sie möglichst lange verweilen. Hat man sich bspw. einmal mit Inhalten zum Thema Depressionen beschäftigt, bleiben diese Accounts algorithmisch verknüpft. Aufgrund dieser Funktionsweise werden immer wieder neue Inhalte zum entsprechenden Thema angezeigt (Kendal, 2021).

Doch auch bei der Thematisierung von Mental-Health-Content auf Social Media gilt wie immer: Nichts ist nur schwarz/weiß. Der offene Austausch über psychische Themen in Verbindung mit sozialen Medien hat auch positive Seiten. Er schafft Bewusstsein, trägt zur Normalisierung bei, macht Hilfsangebote sichtbar, schafft einen Safe Space für Peer-to-Peer-Austausch und -Support. Einer der größten Vorteile liegt vor allem in der Niedrigschwelligkeit dieser Plattformen. Hilfe und Austausch kann anonym, von zu Hause aus und ohne bürokratische Hürden in Anspruch genommen werden.

Insgesamt zeigt sich, dass die Beliebtheit sozialer Netzwerke nicht unbegründet ist. Die vielen Vorteile und Chancen die sie bieten, machen sie attraktiv und geben ihrem Erfolg recht. Hin und wieder das eigene Nutzungsverhalten zu reflektieren, auf seine Mitmenschen zu achten und sich über mögliche Gefahren zu informieren, bilden dabei die Basis für ein gewinnbringendes und gesundes Social-Media-Erlebnis.

Sollten Sie bei sich Symptome verspüren oder befinden Sie sich in einer akuten Krise oder psychischen Belastung, wenden Sie sich bitte an entsprechende Hilfsangebote:

Telefonseelsorge 
Tel.: 0800-111 0 111

https://www.telefonseelsorge.de/

Nummer gegen Kummer

Tel.: 116111 (Kinder- und Jugendtelefon)

Tel.: 0800-1110550 (Elterntelefon)

https://www.nummergegenkummer.de/

Psychiatrische Notaufnahme oder Notruf 112

 

Weiterführende Links und Materialien zum Thema

Umgang mit belastenden Nachrichten in den sozialen Medien

Eine Frau, die ganz erschrocken auf ihr Tablet schaut. © canva.com

Klimakrise, Kriege, Hasskommentare – wenn wir im Internet unterwegs sind, sehen wir zumeist eine schlechte Nachricht nach der anderen. Egal auf welchen medialen Kanälen: wir wissen, dass sich Artikel besser verkaufen und vermarkten lassen, wenn sie möglichst skandalös sind und somit viel Aufmerksamkeit generieren. Und so schaut man sich eine grauenvolle Nachricht nach der anderen an. Hinzu kommen Mechanismen wie das »Infinitive scrolling«, die dafür sorgen, dass man unendlich viele weitere Beiträge in seinem Feed lesen kann. So verbringt man schnell viele Minuten und Stunden am Smartphone. Die Seite endet einfach nicht.
Studien haben festgestellt, dass sich ein Zuviel an schlechten Nachrichten negativ auf die Psyche auswirken kann. Einige Expertisen stellen wir im nächsten Kapitel »Was ist das?« vor. 
Des Weiteren erläutern wir das Phänomen Doomscrolling und werden auf mögliche Strategien eingehen, diese zu enthebeln. Dazu haben wir Prof. Michael Haller, den wissenschaftlichen Leiter des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK), interviewt. Außerdem geben wir Hinweise in unserer Linkliste zu Angeboten in Sachsen und deutschlandweit. 

Doomscrolling, was ist das?

Doomscrolling, oder auch »negatives Scrolling« genannt, bezeichnet das Scrollen auf digitalen Geräten, bei dem man potentiell pausenlos mit schlechten Nachrichten konfrontiert wird. Dies geschieht vor allem in den sozialen Medien, aber auch auf Nachrichtenseiten. Das sogenannte »Infinitive scrolling«, also das unendliche Scrollen, bezeichnet das Phänomen, dass die Beiträge auf den Seiten nicht zu enden scheinen. Es werden beim Scrollen immer weitere Artikel nachgeladen. 
Aber was macht das mit uns Menschen, wenn sie schlechte Nachrichten und Beiträge von Kriegen, Krisen, Krankheiten usw. nahezu pausenlos ansehen? Die Studie vom psychologischen Psychotherapeuten Moritz Petzold von der Berliner Charité und seinen Kolleginnen und Kollegen fand im Frühjahr 2020 heraus, dass vor allem Nutzerinnen und Nutzer der sozialen Netzwerke häufig von Angst und Depressionen berichten. Sie analysierten die Mediennutzung von mehr als 6.000 Menschen während der ersten Pandemiephase 2020. Eine andere Studie, der Reuter Institute Digital News Report aus dem Jahr 2022, hat festgestellt, dass immer mehr junge Erwachsene ihr Interesse an Nachrichten verlieren. Die Hauptgründe, die sie angaben: Themenmüdigkeit, Erschöpfung und eben auch das Hervorrufen schlechter Laune.

Bild von einer Umfrage auf Instagram, wie belastend Doomscrolling empfunden wird. Es werden Prozentzahlen bei ja, nein, weiß nicht gezeigt. Und für Ja haben 57 Prozent gestimmt. © Koordinierungsstelle Medienbildung

Welche Strategien gibt es?

Wir möchten darauf schauen, was es für Möglichkeiten gibt, den Belastungen entgegenzutreten. Hierzu haben wir Herrn Prof. Michael Haller um ein Interview gebeten. Er ist der wissenschaftliche Leiter des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) mit Sitz in Leipzig.

KSM: Bitte erklären Sie uns kurz, was ihr Angebot »fit for news« ist und für wen es sich eignet.

Prof. Michael Haller: Fit for news ist ein Projekt des gemeinnützigen Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK). Es bietet Unterrichtsmaterialien und Onlinekurse, die zum kompetenten Umgang mit Online-News und Inhalten auf Plattformen der Sozialen Medien befähigen sollen. Zu diesem Zweck setzen sie bei den Bedingungen an, die eine gelingende Kommunikation ermöglichen; sie erklären, wie Nachrichten aufgebaut sind und wie die Online-Medienwelt funktioniert. Diese inhaltlich breite Ausrichtung ergab sich aus Erhebungen zum Informationsverhalten Jugendlicher und junger Erwachsener. Deren Befund: Es mangelt bei vielen an grundlegenden Kommunikations- und Informationskompetenzen. Erst wenn diese erlernt worden sind, wird der kompetente Umgang mit Online-Angeboten möglich.

KSM: Warum sollte man an den Onlinekursen für Informationskompetenz teilnehmen? 

Prof. Michael Haller: Die drei fit-for-news-Onlinekurse vermitteln grundlegende Kenntnisse, die einen produktiven und sicheren Umgang mit News-Angeboten und Sozialen Medien ermöglichen. Sie zeigen, wie man Nachrichten, Bilder und Videos überprüfen und Falschnachrichten erkennen kann. Sie erklären dabei auch die Kriterien zuverlässiger Informationen. Die Teilnehmer lernen, was glaubwürdige Medien auszeichnet, was die Eigenheiten der verschiedenen News-Kanäle sind, wie die Algorithmen und Geschäftsmodelle der Social-Media-Plattformen funktionieren und vieles mehr. Im Kern geht es darum, den kritischen Blick im Umgang mit der Online-Medienwelt zu schärfen.

KSM: Der Kurs wird schon einige Zeit angeboten. Haben Sie die bisherigen Kurse ausgewertet und können sie Aussagen treffen, wie es um die Informationskompetenz in Sachsen steht? 

Prof. Michael Haller: Generalisierende Fragen und Antworten sind heikel. Immerhin zeigt eine Ende 2021 publizierte Erhebung, dass die Medienkompetenz in der erwachsenen Bevölkerung Sachsens sehr zu wünschen übrig lässt. Wir wissen aber nicht, ob solch eine Erhebung in einem anderen Bundesland zu anderen Ergebnissen kommen würde. Aufgrund unserer Kurse haben wir jedenfalls den Eindruck, dass vor allem durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg die Skepsis gegenüber den News-Medien und die Nutzung sogenannter Alternativmedien zugenommen hat. Zeitgleich beobachten wir eine wachsende Nachfrage nach der Vermittlung von Medienkompetenz in den Schulen Sachsens.

KSM: Welche Strategien empfehlen Sie gegen das Doomscrolling?

Prof. Michael Haller: Dazu gibt es aus unserer Sicht drei Ansätze: erstens Aufklärung über die Programmlogiken, Funktionsweisen und Geschäftsmodelle der Apps in den Sozialen Medien, vor allem TikTok und Instagram. Die Jugendlichen müssen begreifen, dass sie mit ihrem Nutzungsverhalten die Dynamik des »Immer-mehr-vom-Gleichen« selbst in Gang setzen. Zweitens sollten sie die Kriterien zuverlässiger und relevanter Nachrichten verstehen lernen. Und Drittens geht es auch um Resilienz: Lernen, wie man der Dauerberieselung und dem inneren Zwang, fortlaufend hinschauen zu müssen, entkommt. Die wichtigste Maßnahme lautet: abschalten und »real live« genießen.

KSM: Vielen Dank für das Interview.

Herr Prof. Michael Haller spricht u.a. von Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit, die es gilt aufzubauen oder auch zu stärken, um der psychischen Belastung entgegenzutreten. Und zweitens sollte man Nachrichten verstehen lernen, indem mehr Nachrichtenkompetenz vermittelt wird. 
Natürlich hat jede Person andere Umgangsweisen, Bedarfe und Strategien. Es kann auch helfen, das Smartphone öfter mal beiseite zu legen oder sogenannte Digital-Detox-Tage für sich einzuführen. Fakt ist: Für die Medienbildung ist es wichtig, darüber aufzuklären, welche Mechanismen hinter der Nachrichtenflut auf Smartphones stecken. Dafür gibt es zahlreiche Angebote, in Sachsen und bundesweit. Wir haben einige davon für Sie zusammengestellt. (Stand: Dezember 2022)

Linkliste mit Angeboten zur Nachrichtenkompetenz in Sachsen und bundesweit

Medienbildung für nachhaltige Entwicklung 

Kreidetafel mit dem Text »Time to change« und im Hintergrund ist Natur zu sehen.
Gerd Altmann - Pixabay 

Seit 2021 beschäftigt das Thema »BNE und Medienbildung« die Koordinierungsstelle Medienbildung (KSM) in mehrfacher Hinsicht. Wir gründeten eine Arbeitsgruppe zum Thema und veranstalteten im September 2021 den jährlichen KSM-Fachtag zum Thema »Zukunft.Fair.Medien. – Barcamp für nachhaltige Medienbildung in Sachsen«. Wir sehen einen hohen Bedarf und viel Potential in der Verbindung der beiden Bildungsbereiche. Mit unseren Aktivitäten bieten wir Anstoß und Plattform für einen Austausch.

Grund genug einen Infothek-Text zur Thematik zu veröffentlichen und wir freuen uns sehr über das Interview mit Karen Schönherr, Sprecherin der Fachgruppe »Medienpädagogik und Nachhaltigkeit« in der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK). Das Interview wurde im April 2022 geführt.

1. Warum sollten BNE und Medienbildung zusammen gedacht werden?

Karen Schönherr: Zunächst finde ich, dass beide Bildugskonzepte viel gemein haben. Beide zielen auf ein mündiges Subjekt, das verantwortungsvoll für sich und seine Umgebung handelt. In ihren inhaltlichen Fokussen können beide voneinander profitieren.

Nachhaltigkeit in seinem umfassenden Verständnis ist die wichtigste Aufgabe unserer Zeit. Die Menschheit steuert auf eine Klimakatastrophe zu. Das ist die schlechte Nachricht. Die Gute: Die Menschen können daran etwas ändern. Um die Katastrophe abzuwenden, muss die Veränderung grundlegend und auf allen Ebenen menschlichen Handelns stattfinden: in Politik, in Unternehmen und Industrie, in Kultureinrichtungen, Schulen, Verwaltung, in der Gestaltung unserer Lebensräume und Lebensstile. Überall muss nachhaltiges Handeln mitgedacht werden. Es stellt sich die Frage: Wie?

Politik und Wirtschaft ringen mit ihren Instrumenten von Gesetzen, Subventionen und Investitionen darum, diese Ziele zu erreichen. Zu wenig für die große Veränderung, doch der Weg ist eingeschlagen.

Auf individueller und gesellschaftlicher Ebene hat die Weltgemeinschaft mit Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ein Bildungskonzept entwickelt, das die Komplexität der erforderlichen Veränderungen für den Einzelnen und die Gemeinschaft erfasst und umsetzbar macht.

Medienbildung ist Teil von (Bildungs-)Politik und von individuellem Handeln, Bildung ist individuelles Handeln. Medienbildung muss, wie alle Lebensbereiche, nachhaltige Entwicklung mitdenken und umsetzen. Dazu gibt es bereits Ansätze, aber es braucht noch mehr.

2. Was bedeutet BNE?

Karen Schönherr: Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein Bildungskonzept, das darauf abzielt, »Menschen jeden Alters in die Lage zu versetzten, selbstverantwortlich und gemeinschaftlich die verschiedenen Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens hin zu einer nachhaltigen Entwicklung verändern zu können.« (BNE NRW). BNE möchte Menschen durch Wissen und Reflexion ins nachhaltigere Handeln bringen.

BNE geht weit über Klimaschutz hinaus, es zielt auf eine umfassende gesellschaftliche Transformation, um die Welt zukunftsfähig zu machen. Dafür braucht es Menschen, die Probleme verstehen und Lösungswege entwickeln. Diese Kompetenz möchte BNE vermitteln: »Die Zukunft gestalten lernen« (Gerhard de Haan). Lernende sollen kein vorgeschriebenes Verhalten befolgen, sondern lernen, wie sie ihr eigenes Verhalten im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung gestalten können.

Die didaktischen Grundlagen von BNE sind entsprechend umfassend: Darunter fallen interdisziplinäre Perspektiven, vorausschauendes und vernetztes Denken, gemeinschaftliches Reflektieren und Handeln. Es fließen Impulse anderer Bildungskonzepte ein: Umweltbildung, Globales Lernen, Verbraucherbildung und Demokratiepädagogik und andere. BNE-Akteurinnen und -Akteure schaffen überall Bildungsanlässe: In Schulen und Kitas, in Kommunen, Betrieben und Vereinen, auf Bauernhöfen, in Familien. (Anm.: Beispiele sind am Ende des Textes aufgeführt.)

Die aktuelle Bildungskampagne »BNE 2030« ist eine weltweite Initiative der UNESCO, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization). Es gab zwei Vorläuferprogramme der UNESCO: die UN-Dekade für Bildung für nachhaltige Entwicklung 2005-2014 und das Weltaktionsprogramm BNE 2015-2019. Mit BNE 2030 betont die UNESCO erneut die Bedeutung von Bildung zur Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele. In Deutschland steuert die Nationale Plattform für nachhaltige Entwicklung die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans BNE.
 

»Entwicklung ist dann nachhaltig, wenn Menschen weltweit, gegenwärtig und in Zukunft, würdig leben und ihre Bedürfnisse und Talente unter Berücksichtigung planetarer Grenzen entfalten können« (BNE-Portal). Die Vereinten Nationen (UN) beziehen Nachhaltigkeit auf drei Dimensionen: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Diese werden in verschiedenen anderen Modellen um die Bereiche Politik und Kultur erweitert. Damit wird eine ganzheitliche Perspektive auf die Entwicklung der Menschen weltweit eingenommen: Um eine nachhaltige Entwicklung konkret zu beschreiben und umsetzbar zu machen, verabschiedeten die UN 2015 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) in der Agenda 2030. Sie befassen sich mit den Herausforderungen im Zusammenhang mit Armut, Hunger, Gesundheit, Bildung, Energie, Arbeit, Industrie, Ungleichheiten, Städten, Konsum, Klima, Ökosystemen, Frieden und Partnerschaften.

3. Was kann die Gemeinschaft tun – auf individueller und politischer Ebene?

Karen Schönherr: Manchmal entsteht der Eindruck, dass mit BNE die Verantwortung zur Eindämmung des Klimawandels auf Individuen und deren Verhaltensänderung geschoben wird. Individuen allein stoßen aber in ihrem alltäglichen Handeln an Grenzen, wenn politische Rahmenbedingungen (unzureichender ÖPNV und Radwege) oder wirtschaftliche Marktmacht (nicht reparierbare Geräte) nachhaltiges Handeln erschweren. Beim Ressourcenverbrauch ist der Einfluss von Wirtschaft und Industrie viel höher als der von Individuen, das heißt, individuelle Verhaltensänderungen können zum Aufhalten des Klimawandels nur einen Teil betragen (vgl. Sieghard Neckel). Politische Entscheidungen entwickeln und entfalten sich aber innerhalb einer Gesellschaft. Daher sind auf individueller und gesellschaftlicher Ebene veränderte Konsum- und Verhaltensmuster, ein verändertes Gerechtigkeitsempfinden und Umweltbewusstsein nötig.

Politik und Wirtschaft sind damit nicht aus dem Schneider, hier gibt es erheblichen Handlungsbedarf (Ausbau der erneuerbaren Energien, Lieferkettengesetz etc.). Die ungeheure Anstrengung zur notwendigen umfassenden Transformation zum Wohle aller auf diesem Planeten, auch in Zukunft, ist nur gemeinsam erreichbar.

4. Welche Synergien gibt es zwischen Medienbildung und BNE?

Karen Schönherr: Wie BNE auch hat Medienbildung das Ziel, Menschen für zukünftige Herausforderungen handlungsfähig zu machen. Der Fokus liegt dabei auf Medienkompetenz. Diese geht über das reine Bedienen verschiedener Mediengeräte oder Onlineumgebungen hinaus: Es bedarf Hintergrundwissen über Strukturen, Entstehungs- und Wirkungsweisen von Medien(-angeboten). Es umfasst die Fähigkeiten, Risiken zu begegnen und die Potentiale für verantwortungsvolle Teilhabe und Kreativität zu nutzen. Für die Disziplinen Medienbildung und BNE ist Bildung mehr als Lernen, sie zielen auf zukünftige Handlungskompetenzen. Bildung ist ein aktiver Prozess, den jede Person sich selbst aneignet. Sie sind ohne einander kaum zu denken. Das menschliche Leben ist von Medien durchdrungen, also muss sich auch nachhaltige Entwicklung mit Medien(-handeln) auseinandersetzen. Und da Medienbildung auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen stattfindet, müssen dabei Aspekte nachhaltiger Entwicklung einfließen. In der Verschränkung beider Disziplinen liegen große Potentiale und viele Aufgaben.

5. Wie kann Medienbildung konkret einen Beitrag leisten?

Karen Schönherr: In der medienpädagogischen Praxis wird über Medien gesprochen und es wird mit Medien gearbeitet. Für beide Fälle müssen Kriterien nachhaltiger Entwicklung mitgedacht werden: Sowohl bei Auswahl und Ausgestaltung der Inhalte von Bildungsangeboten als auch beim Einsatz digitaler Medien(-geräte). Wenn z. B. Mediengeräte für Projekte genutzt werden, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Die Geräte der Teilnehmenden einsetzen (auch Bring-your-own-device-Ansatz genannt), Geräte leihen, sie gebraucht oder neu anschaffen. Ähnliches gilt für Software: Es gibt Open Source Programme, Freeware, datensparsame Software oder die der großen Technikkonzerne. Bei der Gestaltung von Workshopinhalten wäre es wichtig, nachhaltige Mediennutzung in allen Angeboten zu implementieren, z. B. Displays bei Nichtnutzung ausschalten oder Videoauflösungen reduzieren, wenn möglich. Dieses nachhaltige Handeln darf aber nicht nur nebenbei geschehen, es muss thematisiert und selbst Teil des Bildungsprozesses sein. Um zu bewerten wie Soft- und Hardware zu nachhaltiger Entwicklung beitragen können, ist die Expertise beider Disziplinen gefragt.

Im Bereich der Medienbildung fehlt derzeit eine systematische Herangehensweise um nachhaltige Entwicklung zu fördern. An vielen Stellen wird diese schon praktiziert oder angestrebt. Problematisch dafür ist, dass medienpädagogisches Arbeiten häufig unter finanziell knappen Budgets stattfindet, nachhaltiges Handeln aber Zeit und damit auch Geld braucht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, nachhaltige Handlungsoptionen zu bündeln und zu übertragen und zusätzlich neue zu erarbeiten.

BNE kann durch Ansätze der Medienbildung Lernende und Anleitende befähigen, mediale Kommunikation zielorientiert einzusetzen, um die Anliegen von BNE möglichst weit zu verbreiten und nachhaltige Entwicklung sichtbar zu machen: z. B. durch Fotos und Videos in Social Media.

Vielen Dank für das Interview!

 

Weiterführende Materialien zum Thema Medienbildung & BNE

Weitere Links zum Thema Medienbildung & BNE

Medienkompetenz zur Prävention von Rechtsextremismus?

Bild von Joshua Woroniecki auf Pixabay  

Die Radikalisierung von jungen Erwachsenen ist ein Thema von derzeit hoher Relevanz. Betrachtet man rechtsextreme Radikalisierungstendenzen in Deutschland, steht ganz besonders Sachsen vor großen Herausforderungen. Die Amadeu-Antonio Stiftung sammelte kürzlich in einem Artikel Studienergebnisse zu rechtsextremer Gewalt in Ostdeutschland und weißt hier unter anderem auf eine Tendenz hin, dass die meisten Angriffe rechter Gewalt in Sachsen stattfinden.

Eine weitere Statistik besagt, dass allein im Jahr 2020 insgesamt 208 Angriffe rechter Gewalt in Sachsen stattgefunden haben sollen.

In Deutschland arbeiten daher viele Bildungsträger daran, diesen Tendenzen durch präventive Maßnahmen und Bildungsangeboten entgegenzuwirken. In öffentlichen Diskursen steht nicht selten die Frage im Raum, welche Rolle Medien für die Verbreitung und Verfestigung von extremistischen Einstellungen einnehmen. Eins ist deutlich: Medien und der Zugang zum Internet ist für junge Menschen allgegenwärtig und selbstverständlich geworden. Soziale Netzwerke sind große und wichtige Bestandteile der Jugendkultur geworden und spielen in Sozialisierungsprozessen und in der Identitätsfindung der Jugendlichen eine wichtige Rolle. Die Ergebnisse der JIM Studie des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest 2020 zeigten, dass 94 % der Jugendlichen ein Smartphone, Computer oder Laptop besitzen. Das bedeutet, dass fast alle Jugendliche in Deutschland über ihre mobilen Endgeräte unbegrenzten Zugang zu allen Inhalten im Internet haben. Eine weitere Befragung weist darauf hin, dass 45 % der Interviewten  in den letzten Monaten mit extremen politischen Ansichten konfrontiert wurden und Jüngere berichten von Desinformation und der Verbreitung extremistischer Inhalte im Netz.

Doch welche Rolle spielen digitale Räume, Online-Welten und somit auch Soziale Medien in den Radikalisierungsprozessen vieler junger Menschen? Kann Medienbildung und Medienkompetenz zur Prävention von Rechtsextremismus beitragen? Diese und weitere Fragen beantwortete uns Adrian Stuiber, welcher seit mehreren Jahren als Medienpädagoge in der digitalen Radikalisierungsprävention tätig ist. Für das Projekt streetwork@online (AVP e.V.) war er auf den »Digitalen Straßen« unterwegs und suchte in (Online-)Communities das Gespräch mit jungen Menschen. Seit 2021 ist er als freiberuflicher Referent, Dozent und Berater für verschiedene Institutionen und Träger im deutschsprachigen Raum tätig.

1. Was versteht man unter Online-Streetwork?

Adrian Stuiber: Online-Streetwork ist aufsuchende mobile Sozialarbeit mit dem Ziel, Menschen in problematischen Lebenslagen in deren Lebens- und Sozialraum anzutreffen, proaktiv anzusprechen und niedrigschwellige Hilfestellung anzubieten. Online-Streetworkerinnen und Streetworker suchen – analog zu ihren Kolleginnen und Kollegen offline – den Kontakt mit der Zielgruppe auf den digitalen Straßen ihrer Online-Lebenswelt. Das findet, bspw. beim Präventionsprojekt streetwork@online, in den sozialen Netzwerken Facebook, Instagram, YouTube und TikTok statt.

2. Warum muss kritische Medienbildung in der Radikalisierungsprävention von jungen Menschen gestärkt und gefördert werden?

Adrian Stuiber: Zunächst einmal finde ich, dass kritische Medienbildung grundsätzlich und altersunabhängig gestärkt und gefördert werden sollte. Mit der Digitalisierung und seit der Entstehung der sozialen Netzwerke um die Jahrtausendwende herum, hat sich so viel getan und gesellschaftlich verändert. Inhaltlich und thematisch haben wir mittlerweile einen nahezu unbegrenzten Zugang zu »Wissen« und allen anderen Informationen, die sonst so durchs Netz geistern. Die Art der Informationsübermittlung hat sich grundlegend geändert und dadurch, dass plötzlich alle Menschen ihre Meinung kundtun können und das häufig ungehemmt durch die mögliche Anonymität tun, werden wir überflutet mit widersprüchlichen Informationen, Leaks zu politischen Themen, unausweichlichen Bildern aus Krisengebieten uvm. Das kann unser Vertrauen in etablierte Medien oder teilweise sogar das gesamte System in Frage stellen. Der Wahrheitsbegriff wird, durch die Sichtbarkeit von so vielen unterschiedlichen, teils kontroversen Perspektiven, neu definiert. Menschen wie Donald Trump wären, meiner Meinung nach, ohne die aktive (Aus-)Nutzung der sozialen Medien, nicht an die Macht gekommen und auch viele Extremistinnen und Extremisten machen sich die neuen Möglichkeiten der »Meinungsmache« zu Nutze, um Menschen für ihre Interessen zu mobilisieren. Das wird dann auch schnell in der Offline-Welt spürbar und heute ist auch Politik kaum noch ohne die sozialen Netzwerke denkbar.

In diesen digitalen Räumen bewegen sich auch oder insbesondere tagtäglich junge Menschen, größtenteils schon ab einem sehr jungen Alter und erleben meist ungefiltert, was dort geschieht. Bei Jugendlichen kommt noch hinzu, dass sie irgendwann, entwicklungsbedingt, auf der Suche nach neuen Vorbildern und Ankern sind, um ihre eigene Identität zu bilden (Adoleszenzphase). Sie stellen sich viele, grundsätzliche und individuelle Fragen und stoßen dabei natürlich auch im Internet auf teilweise sehr fragwürdige und oft absolute Antworten. Genau hier setzt die Medienpädagogik, aber auch die digitale Jugendarbeit an. Und ohne eine gesunde, gestärkte Resilienz, kann der digitale Raum für uns schnell zu einem Katalysator bei Radikalisierungsprozessen werden.

3. Mit welchen Methoden wird in der digitalen Radikalisierungsprävention gearbeitet?

Adrian Stuiber: Aus meiner Erfahrung heraus, versuche ich das mal über zwei verschiedene Ansätze zu beschreiben: Zum einen gibt es das große, diverse Feld der Online-Beratungen. Dorthin können sich Personen anonym und verschlüsselt per Mail oder Chat wenden. Zielgruppen sind Menschen, die entweder selbst in einem radikalen, bis extremistischen Umfeld unterwegs sind und einen »neutralen« Austausch suchen bis hin zur Ausstiegsberatung; oder auch Menschen, die in ihrem Umfeld mit solchen Menschen zu tun haben und Unterstützung suchen (Angehörige, Lehrkräfte, Pädaoginnen und Pädagogen uvm.).

Und der Bereich, indem ich mich am besten auskenne: Das Online-Streetwork. Wie schon in Frage 1 beschrieben, ist es eine niedrigschwellige und sehr direkte Möglichkeit mit seinen Zielgruppen in Kontakt zu kommen. Grundsätzlich werden zwei Methoden unterschieden:

  • Content based Online-Streetwork bezeichnet die Kontaktaufnahme durch eigene Inhalte (engl. content), wie Videos, Bilder oder Texte auf eigener Webpräsenz oder in relevanten Gruppen. Über die Inhalte wird eine Brücke zur Zielgruppe aufgebaut, um darüber ins Gespräch bzw. in die Beziehungsarbeit zu kommen.
  • Non content based Online-Streetwork beschreibt die proaktive Ansprache der Zielgruppe direkt in den sozialen Netzwerken beispielsweise durch Beiträge in Kommentarspalten oder Einzelchats.

Wie das genau funktioniert, kann man in der Broschüre »Online-Streetwork - Ein erweiterter Ansatz der aufsuchenden Jugendarbeit & Radikalisierungsprävention« (Link dazu unten) nachlesen.

4. Sind Medien für die Verbreitung und Verfestigung extremistischer Einstellungen verantwortlich?

Adrian Stuiber: Ein klares Jein. Grundsätzlich sehe ich Medien an als eine Möglichkeit Informationen zu übermitteln. Diese codierten Informationen (bspw. in Form von Wort, Bild, Video etc.) werden zwischen einer sendenden zu einer empfangenden Person übertragen. Die Subjektivität jedes einzelnen Individuums trägt dazu bei, dass diese Informationen zunächst individuell wahrgenommen und dann noch interpretiert werden. So würde ich die Verantwortlichkeit eher sowohl auf der sendenden als auch auf der empfangenden Seite sehen. Bestimmte Eigenschaften von Medien, wie schon in Frage 2 beschrieben, können aber dazu beitragen, dass bspw. Radikalisierungsprozesse begünstigt werden. Am Ende ist der bewusste Umgang damit der entscheidende Faktor und dazu zählt für mich auch die Verantwortung derjenigen, die Medieninhalte zur Verfügung stellen (öffentlich-rechtliche und private Sender, Medienkonzerne usw.).

5. Können sie zur Prävention von Rechtsextremismus, Salafismus und anderen Strömungen beitragen?

Adrian Stuiber: Ja, das würde ich schon sagen. Medien können sowohl für die Verbreitung und Verfestigung von radikalen bis extremistischen Strömungen, als auch für das Gegenteil genutzt werden.

 

Links zu weiterführenden Materialien

Netzwerke schaffen (Medien-)Bildung

Das Bild zeigt ein Netzwerk aus bunten Fäden. © Omar Flores von unsplash

Warum sind Netzwerke im Bereich Medienbildung wichtig? Was bringen sie für den Einzelnen und was für die Gemeinschaft? Welche Netzwerke existieren bereits in Sachsen? Und welche Bereiche der Medienbildung könnten durch eine Netzwerkbildung voneinander profitieren?

Diese und andere Fragen wurden beim Fachtag »Netz.Werke - Vernetzung der Medienbildung in Sachsen« diskutiert. Insgesamt trafen sich am 08.12.2020 über 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus unterschiedlichen Institutionen und tauschten sich online aus. Neben Medienpädagoginnen und Medienpädagogen waren Kinder- und Jugend-, Senioren- und Familienbildnerinnen und -bildner vertreten. Es zeigte sich ein breites Interesse.

Nicht erst seit der Coronapandemie steht die Medienbildung im schulischen und außerschulischen Bereich vor großen Herausforderungen. Medienbildung erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und wird zunehmend bedeutungsvoller. Die Nachfrage nach Handlungsanleitungen, Tipps und Tricks im Umgang mit digitalen Medien in Familie und Schule war nie größer. Medienpädagogische Angebote in Form von Informationsveranstaltungen, Fortbildungen, Workshops und Kursen werden auch online stärker nachgefragt. Damit man gemeinsam die neuen Herausforderungen bewältigt, ist der Zusammenschluss zu Netzwerken nicht nur ratsam, sondern notwendig.

Was zeichnet Netzwerke und Netzwerkarbeit aus?

  • Wertschätzende Zusammenarbeit

In Netzwerken arbeiten Einzelpersonen und Institutionen wertschätzend und verlässlich zu einem gesetzten Thema zusammen. Im Wesentlichen geht es um einen Informations- und Erfahrungsaustausch und darum sich gemeinsam für eine Sache zu engagieren. Eine gute Kooperation gelingt, wenn die Stärken jedes Einzelnen und jeder Institution sichtbar gemacht und einbezogen werden. Dafür benötigt es einen offenen und vertrauensvollen Umgang, klare Verabredungen sowie lösungs- und sachorientiertes Handeln bei Konflikten.

  • Bündelung von Kompetenzen und Ressourcen

Das Arbeiten in Netzwerken bringt viele Vorteile mit sich. Durch die unterschiedlichen Kompetenzen der Mitglieder kommt es zur Konzentration und Bündelung von Ressourcen. Die gemeinsamen Schnittstellen werden ausgelotet, es werden Entscheidungen getroffen und das gemeinsame Vorgehen wird abgestimmt. Durch das Zusammenwirken entstehen Synergien, die zu neuen Projekten und Kooperationen führen.

  • Netzwerke sichern Kooperationen und Nachhaltigkeit

Das Arbeiten in Netzwerken erleichtert das Erreichen der eigenen Arbeitsziele. Man kann sich im Netzwerk abstimmen, austauschen und durch Kooperation Arbeit erleichtern und voranbringen. Beispielsweise wird seit vielen Jahren das bundesweite Gamescamp – ein Barcamp für computerspielbegeisterte Jugendliche - von Trägerverbänden aus Deutschland umgesetzt. Im Netzwerk wird voneinander gelernt, Ressourcen und Kompetenzen werden gebündelt und gemeinsam wird das Angebot weiter entwickelt. Vernetzung ist eine wichtige Voraussetzung für eine Verbesserung von Angeboten und für die Stabilisierung von Kooperationen. Sie ermöglicht eine stetige Weiterentwicklung und wirkt somit nachhaltig.

Die Angebote der Medienbildung im Land Sachsen sind bereits sehr vielfältig. Einen Überblick über bestehende regionale Netzwerke finden Sie auf unserer Seite unter Netzwerke. Gemeinsam gilt es diese zu erweitern und auszubauen.

Interview mit Josephine Reußner, Referentin für das Projekt »Lokale Netzwerke«

Warum lokale Netzwerke sinnvoll sind und wie sie in ihrer Zusammenarbeit gut gelingen können, haben wir mit Josephine Reußner besprochen. Sie ist Referentin für den Bereich »Lokale Netzwerke« innerhalb der vom BMFSFJ geförderten Inititaive »Gutes Aufwachsen mit Medien«. Das Initiativbüro berät und begleitet bestehende lokale Netzwerke, die im Bereich der Medienkompetenzförderung für Kinder und Jugendliche aktiv sind und unterstützt die Bildung neuer Netzwerke.

1. Warum sind Netzwerke im Bereich Medienbildung wichtig?

Josephine Reußner: Bereits Babys und Kleinkinder kommen beim Aufwachsen mit Medien in Berührung. Viele Eltern und pädagogische Fachkräfte fühlen sich im Bereich Medienbildung überfordert, sind sie doch selbst nicht in dieser Form mit Medien aufgewachsen. Deshalb benötigt es Netzwerke für die Stärkung der Medienkompetenz. In sogenannten »Lokalen Netzwerken für ein Gutes Aufwachsen mit Medien« engagieren sich Akteurinnen und Akteure der Kinder-, Jugend- oder Familienhilfe mit medienpädagogischen Institutionen gemeinsam vor Ort, damit Kinder, Jugendliche und Familien souverän, reflektiert und verantwortungsbewusst mit Medien umgehen lernen. Durch die Begleitung der Angebote im Netzwerk können auch pädagogische Fachkräfte eine eigene Haltung entwickeln und praxisnah Medienbildung erfahren. Im Netzwerk können Kompetenzen, Ressourcen ausgetauscht und voneinander gelernt werden. Sie können innovative Angebote entwickeln und sogar neue Zielgruppen individuell durch die Partner vor Ort erreichen. Die Netzwerkakteurinnen und -akteure führen gemeinsame Veranstaltungen durch, teilen ihr Wissen, Räumlichkeiten oder auch ihre Medientechnik. Durch die Zusammenarbeit entwickeln sie sich zu (medien-) kompetenten Ansprechpartnern vor Ort und können den Herausforderungen der Digitalisierung gemeinsam entgegengehen.

2. Welches sind gelingende Bedingungen um eine Netzwerkarbeit voran zu treiben?

Josephine Reußner: Grundsätzlich hilft es, ein gemeinsames Ziel – Medienkompetenz von Kindern, Jugendlichen und Familien zu stärken – zu verfolgen. Jede und jeder Netzwerkakteurin und -akteur bringt die eigenen Stärken ein. Dafür ist ein gegenseitiges Verständnis und vor allem Geduld fundamental.

»Von Vorteil sind Toleranz und Offenheit für neue Wege z. B. in der Umsetzung von Praxisprojekten oder in der Ansprache der Zielgruppen.«

Es ist wichtig, alle Netzwerkakteurinnen und -akteure mitzunehmen und gemeinsam das Netzwerk auf die Beine zu stellen. Hilfreich für die Zusammenarbeit sind auch verlässliche Strukturen im Netzwerk, wie ein regelmäßiger bedarfsorientierter Austausch und feste Verantwortlichkeiten. Von Vorteil sind Toleranz und Offenheit für neue Wege z. B. in der Umsetzung von Praxisprojekten oder in der Ansprache der Zielgruppen. Zu guter Letzt darf auch eine aktive Vernetzung nach außen nicht aus den Augen verloren werden, denn starke Netzwerke sind keine starren Netzwerke.

3. In ihrer Arbeit unterstützen Sie die Bildung neuer Partnerschaften und somit neuen Netzwerken. Wie viel Zeit braucht der Aufbau von einem lokalen Netzwerk? Welches sind die größten Hürden?

Josephine Reußner: Erfahrungsgemäß ist dieser Prozess sehr unterschiedlich. Mal dauert es Jahre, um Überzeugungsarbeit zu leisten, alle Netzwerkakteurinnen und -akteure im Prozess mitzunehmen, Fördertöpfe zu akquirieren oder eine Struktur der wertschätzenden Zusammenarbeit aufzubauen. Mal geht es schneller z. B. wenn sich die Netzwerkakteurinnen und -akteure bereits kennen, Vertrauen besteht und Abläufe eingespielt sind. Zu den größten Hürden zählt eine verlässliche Struktur – das Netzwerk muss erst gemeinsam laufen lernen, in dem alle Netzwerkakteuerinnen und -akteure aktiv ihre Stärken beitragen, das Nehmen und Geben im Netzwerk verinnerlicht haben, eine wertschätzende Kommunikationskultur pflegen und bereit sind das Netzwerk lebendig zu gestalten.

4. Wie schätzen Sie die Bedarfe im ländlichen und städtischen Raum ein, sehen sie hier Bedarfs- und Strategieunterschiede?

»Netzwerke im ländlichen Raum müssen oft kreativer und geduldiger ihre Angebote bewerben, sich der Nachteile bewusst sein und nach individuellen Lösungen suchen.«

Josephine Reußner: Während im ländlichen Raum Netzwerkeinrichtungen meist regional verstreut liegen, gibt es in Städten mehr Nähe unter den Netzwerkakteurinnen und -akteure. Auch bieten hier die Strukturen häufig eine vielfältigere Angebotskultur. Im ländlichen Raum müssen Referentinnen und Referenten und Teilnehmende weite Anfahrtswege überwinden. Im städtischen Raum gibt es häufiger gesicherte Finanzierungen beispielsweise durch die städtische Verwaltung oder die Landesmedienanstalt. Netzwerke im ländlichen Raum müssen oft kreativer und geduldiger ihre Angebote bewerben, sich der Nachteile bewusst sein und nach individuellen Lösungen suchen. Aber die geografische Lage hat keine Auswirkungen auf spannende medienpädagogische Angebote im Netzwerk, mit denen sie Kinder, Jugendliche oder Familien begeistern können.

Vielen Dank für das Interview.

Hier finden Sie den Erklärfilm der Initiative »Gutes Aufwachsen mit Medien« zum Thema Lokale Netzwerke.

 

Netzwerke der Medienbildung in Sachsen und bundesweit

Im Folgenden finden Sie eine Sammlung an regionalen und bundesweiten Netzwerken der Medienbildung.

Vielfalt in den Medien

Laptop und im Hintergrund verschiedene Portraits von Menschen unterschiedlicher Herkunft. © Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Medien informieren, erzählen Geschichten und bilden Lebensrealitäten ab. So läuft es zumindest im Optimalfall. Die deutsche Medienlandschaft ist immer noch ziemlich homogen. So gelten Redaktionsstrukturen als weiß, besetzt mit Menschen aus der Mittelschicht, Akademikerinnen und Akademikern, in guten Stadtvierteln zu Hause – und in den Führungsebenen meist männlich (Meyer, 2018).

Studienergebnisse zeigten, dass 98 Prozent der Chefredakteur*innen deutscher Tageszeitungen männlich sind (Pro Quote Medien, 2019). Ähnliche Machtgefälle herrschen beim Rundfunk und in Online-Redaktionen. Eine Umfrage der Neuen Deutschen Medienmacher*innen hat ergeben, dass nur sechs Prozent der Chefredakteurinnen und Chefredakteure einen Migrationshintergrund haben (NdM, 2020).

Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund sind im Vergleich zum Anteil in der Bevölkerung in der Medienlandschaft massiv unterrepräsentiert. Beide Organisationen fordern deshalb entsprechende Quoten. In Deutschland haben 25,5 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen argumentieren, dass zugewanderte Menschen als Zielgruppe mitgedacht werden müssen.

Portrait von Nhi Le © Martin Neuhof

Im Folgenden wollen wir uns dem Thema über ein Interview mit Nhi Le aus Leipzig weiter annähern. Nhi Le arbeitet als freie Journalistin, Speakerin und Moderatorin. Ihre Schwerpunkte sind Feminismus und digitale Medienkultur. Sie hat Vorträge und Workshops unter anderem für Stanford University, TEDx und re:publica gehalten. Auf jetzt.de schreibt sie die Medien-Kolumne »The Female Gaze«. Die ZEIT zählt sie zu einer der 100 wichtigsten jungen Ostdeutschen. Nhi Le hat Journalismus und Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig, Ohio und den USA studiert. 

1. Wie fühlst Du dich repräsentiert in den Medien?

Nhi Le: Die deutsche Medienlandschaft hat einiges in Sachen Vielfalt aufzuholen. Wenn ich speziell an den Journalismus denke, dann gibt es im Vergleich zum Bevölkerungsanteil viel weniger Frauen und auch noch weniger Menschen mit Migrationsgeschichte. Ich denke, dass gerade migrantische Perspektiven sowohl gesamtgesellschaftlich als auch medial viel zu unterrepräsentiert sind. Natürlich ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft weiß, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass alles nicht-weiße als Randerscheinung begriffen wird und das ist falsch. Menschen mit Migrationshintergrund sind genau so ein Teil dieser Gesellschaft, weshalb auch ihre Belange und Lebensrealitäten Gehör und Platz verdienen. 

2. Denkst Du, es sollte eine Art Vielfaltsquote geben in den großen (und kleinen) Medienhäusern

Nhi Le: Ich bin prinzipiell für Quoten, da die Menschen, für die die Quoten bestimmt sind, einfach weniger Chancen auf entsprechende Positionen haben. Deshalb halte ich auch diese Quote für sinnvoll. 

3. Können Medien, digitale, zur Vielfalt beitragen? Und warum?

Nhi Le: Auf jeden Fall! Medien stellen ja Menschen und ihre Lebensrealitäten dar, sie repräsentieren. Beispielsweise habe ich als Kind kaum asiatische Gesichter im Film oder Fernsehen gesehen und wenn dann oftmals in stereotypen Rollen. Es fehlte das Identifikationspotenzial.

Auch im Journalismus sehe ich es immer wieder, dass diverse Redaktionen mit diversen Perspektiven auch andere Geschichten bringen. Fälschlicherweise geht man immer davon aus, dass der weiß-männliche Blick, der ja in allen Bereichen dominiert, neutral ist. Das kann natürlich nicht stimmen, denn ein älterer weißer Herr aus dem Bürgertum sieht und erlebt die Welt ja anders als beispielsweise eine junge migrantische Frau aus einer Arbeiter*innenfamilie. Medien können zur Vielfalt beitragen, wenn vielfältige Menschen Medien machen. Es ist aber nicht getan, indem man nur eine nicht-weiße Person oder nur eine Frau ins Team holt.

Ich glaube, dass Netflix bei einigen Projekten eine gute Strategie fährt. Ich denke da zum Beispiel an die Serie »Noch nie in meinem Leben...«, die sowohl vor als auch hinter der Kamera einen sehr diversen Cast hat. Auf Instagram gibt es einige bildungspolitische Angebote, die für eine jugendliche Zielgruppe bzw. ab dem jungen Erwachsenenalter geeignet ist. »Erklär mir mal« erklärt politische Themen aus queerer und postmigrantischer Perspektive. Generell finde ich, dass es auf den sozialen Medien am meisten diverse Angebote gibt, da hier eine gewisse Niedrigschwelligkeit herrscht. Diverse Medienmacher*innen können hier mit eigenen Projekten wie Podcasts oder Blogs starten. Für mich ist es aber auch ein Zeichen dafür, wie undurchlässig und oftmals elitär traditionelle Medienhäuser sind. Da finde ich junge Journalismusangebote wie jetzt, bento oder ze.tt gut, da sie junge Journalist*innen eher eine Chance geben. 

4. Was können Medienpädagog*innen machen, um die Vielfalt zu unterstützen?

Nhi Le: Das kann in vielerlei Hinsicht umgesetzt werden. Erstens muss darüber nachgedacht werden, welche Zielgruppe erreicht wird. Nicht alle Kinder und Jugendliche haben die gleichen Zugänge zu Bildung. Wie wird sichergestellt, dass man auch mit ihnen zusammenarbeitet? In dem Zusammenhang wäre aber natürlich auch interkulturelles Training oder zumindest Wissen von Vorteil. Der andere Punkt bezieht sich auf die Materialien und Beispiele. Da wäre es gut, nicht immer auf Materialien zurückzugreifen, die immer nur die gleiche weiß- deutsche Lebensrealität abbilden.

 

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Gegenrede - Wie man Hass im Netz begegnet

Herz mit der Aufschrift No Hate

Hass und Diskriminierung in sozialen Netzwerken kann dazu führen, demokratiefeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen zu befördern oder gar zu festigen. Seit einigen Jahren wird in der breiten Öffentlichkeit darüber diskutiert, auf welche Art und Weise politische und gesellschaftliche Debatten im Internet geführt werden. Die sozialen Netzwerke bieten einerseits die Möglichkeit, digital in einen weltweiten Dialog zu treten und können gleichzeitig Nährboden für Hass, Hetze und Diskriminierung sein. Auch wenn Hassreden bereits vor der Einführung des Internets existierten, so hat es den Anschein, dass sich mittlerweile eine ganz neue Qualität entwickelt hat.

Der Begriff Hate Speech (zu deutsch: Hassrede) umfasst nach einer Definition des Europarates dabei

»[...] jegliche Ausdrucksformen, welche Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, sie fördern und rechtfertigen [...]« (Deutscher Bundestag, 2016, S.4)

und richtet sich zumeist gegen Personen, die einer Gruppe zugeordnet werden können.

Uns interessiert in diesem Zusammenhang, was Hate Speech eigentlich ist und wie ich auf diskriminierende Aussagen reagieren kann. Diese und weitere Fragen haben wir der Expertin Sabine Kirst, Referentin im Bereich Medienbildung und Medienkompetenz der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB), gestellt:

1. Frau Kirst, wie erkenne ich eigentlich Hate Speech und ab wann sollte ich mich einklinken/ einmischen?

Sabine Kirst: Hassrede erkennt man daran, dass in Kommentaren in sozialen Netzwerken oder aber auch offline in persönlichen Gesprächen andere Personen oder Personengruppen sprachlich durch Beschreibungen herabgesetzt, beleidigt oder verunglimpft werden. Das können diskriminierende oder gar volksverhetzende Äußerungen sein. Grundsätzlich sollten solche Äußerungen nicht unwidersprochen bleiben. Einklinken sollte man sich immer dann, wenn man auf die Frage »Teile ich diese Meinung?« ein ganz mieses Bauchgefühl bekommt. 

2. Was kann ich konkret tun, wenn ich Hate Speech im Netz sehe? 

Sabine Kirst: Die erste Hürde, die man überwinden muss, ist der eigene innere »Schweinehund«. Auch hier hilft es, sich in die Lage der beleidigten oder verunglimpften Person hinein zu versetzen: »Was wäre, wenn ich damit gemeint wäre?«. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie man auf Hassrede reagieren kann: man kann Beiträge bei den Plattformen oder Seitenbetreibern zur Überprüfung melden. Es gibt auch Organisationen wie z. B. Jugendschutz.net, die man auf solche Beiträge hinweisen kann. Die Kolleg*innen dort sehen sich dann an, worum genau es sich handelt und werden dann aktiv. Wer sich das allein nicht traut, kann auch ganz einfach eine Vertrauensperson fragen, wie er oder sie reagieren würde und dann kann man gemeinsam überlegen und aktiv werden. »Melden« ist ein sehr drastischer Schritt, der wohl überlegt sein sollte. Zum anderen kann man auch direkt auf einen Hasskommentar antworten. Hier gilt es, sachlich zu bleiben und klar zu benennen, warum man die Auffassung nicht teilt oder warum man selbst die Äußerung des Anderen als Hassrede einschätzt. Das signalisiert allen »stillen« Mitleser*innen, dass Widerspruch möglich und auch nötig ist. Auch hier sollte man sich vorher überlegt haben, wie und was man antworten möchte und ab wann für einen selbst die Grenze erreicht ist. Drittens kann man auch für reflektierte Kommentare ein LIKE verteilen oder auch in einer PN mitteilen, dass man den Widerspruch wahrgenommen hat. Das kann die andere Person ermutigen, zukünftig weiter an Diskussionen teilzunehmen.

3. Welche erfolgreichen Gegensprechstrategien haben Sie bereits erlebt bzw. angewendet?

Sabine Kirst: Erlebt habe ich zum Beispiel Memes als Gegenstrategie, als Jerôme Boateng von einer großen Autoverleihfirma gegenüber einer politischen Partei in Schutz genommen wurde. Das war dringend geboten und absolut auf den Punkt. Bevor man Gegenstrategien allerdings anwendet, muss man sich immer der sprachlichen Bilder bewusst sein, die Hasspostings oder Hasskommentare beinhalten können. Alltägliche Begriffe werden umgedeutet, sprachlich kodifiziert oder drastische Äußerungen werden verharmlost. Je nach Hassstrategie wäre dann eine entsprechende Gegenstrategie zu wählen, und zwar so, dass man die Vorurteile und den Hass nicht wiederholt oder verstärkt, sondern entkräftet. Je klarer man die Hassstrategie benennen kann, desto besser kann man auch reagieren. Zum Beispiel lohnt es sich nicht, endlos Argumente auszutauschen. Wenn man den eigenen Standpunkt zwei- bis dreimal untermauert hat, kann man sich höflich aber bestimmt aus der Diskussion verabschieden. Vollkommen indiskutabel sind die Leugnung und Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen, Aufrufe zu Gewalt oder Straftaten sowie volksverhetzende und in der Menschenwürde verletzende Kommentare. Da gibt es keinen Platz mehr für Gegenstrategien. Solche Kommentare stehen außerhalb des demokratischen Konsens‘. Da würde ich einen Screenshot machen und entsprechend online-Anzeige bei der Polizei erstatten. 

4. Gegenrede/Counter Speech kann Hate Speech kurzzeitig verstärken. Wie gehe ich mit Shitstorm um? 

Sabine Kirst: Da muss man genau unterscheiden: trifft mich der Shitstorm als Privatperson oder in meiner beruflichen Tätigkeit, als online Redakteur*in zum Beispiel. Redaktionen ist anzuraten, sich für den Krisenfall eine Handlungskette zu überlegen und sich daran zu halten. Hier gibt es einige nennenswerte Handreichungen, die sehr lohnenswert sind. Die darin enthaltenden Hinweise sind gut adaptierbar. Allerdings, und das ist das Schwierige an Shitstorms, so plötzlich wie sie auftreten können, so schnell können sie auch wieder abflauen. Als Privatperson würde ich ähnlich verfahren. Hier gilt es zusätzlich, besonders aufmerksam gegenüber unterschwelligen oder versteckten Drohungen zu sein. Daher wäre auch hier der erste Schritt, weitere Personen zu informieren und ggf. gemeinsam weitere Schritte zu überlegen. 

5. Was kann seitens der Bildungsinstitutionen getan werden, um Kinder und Jugendliche gegen mediale Manipulation und Netzpropaganda zu sensibilisieren?

Sabine Kirst: Da kommen wir zunehmend in einen anderen Bereich – den Bereich der Medienkritik bzw. Nachrichtenkompetenz. Wichtig ist der reflektierte Umgang mit Quellen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass es mitunter anstrengend und zeitaufwendig ist, Quellen oder Berichte zu überprüfen. Und, dass es wichtig ist, Fragen zu stellen und neugierig zu bleiben. Zweitens ist es wichtig, sich einmal in diejenigen hineinzuversetzen, die zum Beispiel mit manipulierten Informationen bestimmte Ziele erreichen wollen. Wahlkämpfe sind da ein sehr aktuelles Beispiel. Wie müsste man vorgehen, um eine bestimmte Wählerschaft zu erreichen? Was müsste man sagen oder schreiben, das deren Nerv trifft? Und vor allen Dingen, wie muss ich diese Informationen streuen, dass sie als möglichst glaubwürdig oder seriös eingeschätzt werden. Da sind wir also bei Sprache und Bildern und wie sie eingesetzt werden, um Emotionen zu beeinflussen. Das sind nur zwei mögliche Ansatzpunkte, die ich jedoch für sehr, sehr wichtig halte. 

 

Materialien zum Thema Hassrede und Gegenrede

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